Was waren die Anfänge Ihrer interreligiösen Zusammenarbeit?
Pfarrer Dr. Kees: Meine Vorgängerin Elisabeth Kruse hat die Verbindung der evangelischen Gemeinde Genezareth mit der Neuköllner Begegnungsstätte und der Dar-as-Salam-Moschee aufgebaut und etabliert.
Imam Sabri: Ich bin 2006 arbeitsbedingt von Bremen nach Berlin gezogen. Anfangs gab es noch keine interreligiösen Zusammenkünfte. Es war ein Glück, dass ich damals Elisabeth Kruse getroffen habe. Nach und nach ist ein gemeinsames Netzwerk entstanden.
Wie sieht die interreligiöse Zusammenarbeit aus?
Pfarrer Dr. Kees: Zunächst einmal besuchen wir uns gegenseitig zu den großen Festen. Außerdem gibt es die interreligiösen Jahresempfänge in der Neuköllner Begegnungsstätte und weitere Veranstaltungen, die über den Kiez und manchmal sogar über den Stadtbezirk hinausweisen. Wir arbeiten aber zum Beispiel auch viel mit Schulklassen zusammen, die sowohl die Kirche als auch die Moschee und die Synagoge besuchen wollen. Die relativ kleine jüdische Gemeinschaft ist mit Rabbi Hammel meistens dabei.
Das Zusammenfinden und die Zusammenarbeit ist also offensichtlich zunächst durch persönliche Beziehungen entstanden. Gab es auch Impulse aus den Gemeinden?
Imam Sabri: Die Leute in meiner Gemeinschaft sind meist einfache Leute und haben in der Regel kaum Berührungspunkte mit Menschen anderer Religionen. In Tunis z.B. nimmt man vielleicht das Glockenläuten der großen Kathedrale wahr, aber man geht nicht in die Kathedrale hinein. Viele Leute, die nach Deutschland gekommen sind, waren unsicher, ob sie eine Kirche oder Synagoge überhaupt betreten dürfen. Inzwischen ist es in meiner Gemeinde üblich, dass einfache Leute auch in eine Kirche gehen. Dies ist ein großer Fortschritt.
Pfarrer Dr. Kees: Wir hatten in der Genezareth-Kirche eine Ausstellung von Glaubenstexten verschiedener Religionen, geschrieben in arabischer Kalligrafie. Diese zeigte den Besuchern, wie viel gemeinsam ist. Auf der einen Seite die erste Sure, die jeder Muslim mehrfach am Tag betet, auf der anderen Seite das Vater Unser – darunter jeweils das Wort Amen, das so viel heißt wie „so soll es sein“. Die Ausstellung vermittelte, dass wir nicht dasselbe glauben, aber wir an denselben glauben. Das ist nicht für alle Christen und nicht für alle Muslime und Juden Konsens, für uns aber ist es Konsens.
Wie sehen gemeinsame Interreligiöse Veranstaltungen aus?
Pfarrer Dr. Kees: Wir rufen zum Beispiel zu interreligiösen Gebeten auf, die auf Gemeinsamkeiten in den Texten beruhen. Bei manchen Veranstaltungen geht es aber auch um den reinen Informationsaustausch.
Imam Sabri: Beim interreligiösen Dialog geht es nicht darum, andere von deinem Glauben und deiner Glaubenspraxis zu überzeugen, sondern um das gegenseitige Kennenlernen. Dadurch lösen sich die Grenzen auf, die uns manchmal davon abhalten, das Herz füreinander zu öffnen. Er hat seine Farbe, ich habe meine Farbe – niemand verlangt, dass der andere seine Farbe aufgibt. Aber ein buntes Mosaik mit unseren vielen Farben zu schaffen, das ist die Kunst der Vielfältigkeit. Unsere Verbindung ist, dass wir alle Gottes Schöpfung sind.
Wie wurde die interreligiöse Zusammenarbeit über die Coronazeit hinweg aufrechterhalten?
Pfarrer Dr. Kees: Während des Lockdowns hatten wir zwei besonders symbolträchtige Veranstaltungen. Die erste war das gemeinsame Glockenläuten und der gleichzeitige Ausruf des Az¯an (islamischer Gebetsruf, Anm. d. Red.) bei der Neuköllner Begegnungsstätte. Leider wurden Abstands- und Hygieneregelungen nicht eingehalten und die Veranstaltung musste abgebrochen werden. Und es gibt leider immer auch diejenigen, die solche Veranstaltungen für politische Zwecke instrumentalisieren.
Imam Sabri: Aber die Bilder, die manche Nachrichten in die Welt sandten, waren unbezahlbar. Bilder von Muslimen in einer Kirche, ein Pfarrer neben einem Imam und das gleichzeitige Läuten der Glocken mit dem Az¯an.
Pfarrer Dr. Kees: Das zweite schöne Symbol war der erste Gottesdienst in der Coronazeit, der in der Kaiser-Wilhelm -Gedächtniskirche stattgefunden hat. Imam Sabri war auch dabei und hat in der Kirche gebetet.
Wie wird mit kritischen Stimmen gegenüber der interreligiösen Zusammenarbeit umgegangen?
Pfarrer Dr. Kees: Es stimmt, unsere enge Zusammenarbeit wird nicht überall positiv aufgenommen. Unser Argument ist, dass wir mit denjenigen Menschen zusammenarbeiten, mit denen wir diese gemeinsame Grundlage haben: die Menschenrechte, der Glaube an einen gemeinsamen Gott und die Nächstenliebe. Natürlich prüfen wir auch, mit wem wir zusammenarbeiten können.
Imam Sabri: Wir müssen immer wieder neu Integrationsarbeit auch innerhalb der Gemeinden leisten, besonders dann, wenn Menschen neu hinzustoßen. Zum Kulturschock, die ein Migrant erfährt, kommt zusätzlich die Umstellung auf unsere Philosophie der interkulturellen Zusammenarbeit. Das ist für viele nicht einfach. Ich habe auch erlebt, dass sich junge Menschen, die in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben, komplett verschließen. Sie nutzen Religion als Rebellion, weil sie vom deutschen System enttäuscht sind oder vielleicht schlechte Erfahrungen gemacht haben. Dass mittlerweile viele junge und alte Leute zu den interreligiösen Dialogen kommen, ist ein großer Fortschritt. Man muss sich für die Vielfalt der Gesellschaft öffnen, denn je vielfältiger sie ist, desto besser kann sie mit gesellschaftlichen Herausforderungen umgehen.
Pfarrer Kees: Auch wenn wir die ideologisch Engeren nicht erreichen können, sehen wir einen immensen Lernprozess und eine Veränderung in der Denkweise vieler Menschen.
Interview: Jasmina McKenna, Tania Salas, raumscript