Im BROADWAY #12 – 2020/21 wurde das Thema „Zusammen“ zum Leitgedanken gewählt. Die Corona-Pandemie fordert das Zusammen heraus, ganz besonders auch in Neukölln. Zusammenhalt ist nötiger denn je. Das Magazin betrachtet das „Zusammen“ aus unterschiedlichen Perspektiven, stellt gemeinsam gefundene Strategien vor, schaut auf gemeinschaftliche Projektentwicklungen im Zentrum Karl-Marx-Straße oder auf den Zusammenhalt über religiöse Grenzen hinweg.

Stand November 2020

Trotzdem weitermachen

Die Corona-Pandemie und der Lockdown im Frühjahr 2020 hat die Gewerbetreiben­den und Kulturschaffenden an der Karl- Marx-Straße wie vielerorts schwer getrof­fen. Sie werden auch im Sinne des Leitbilds der [Aktion! Karl-Marx-Straße] „Handeln, Begegnen, Erleben“ auf eine harte Probe gestellt. Im September haben wir einige von ihnen besucht. In unseren Gesprächen ging es besonders darum, wie sie mit den Herausforderungen der letzten Monate umgegangen sind, wo sie Unterstützung gefunden haben und wie sie in die Zukunft blicken. Für die Zukunft unseres sonst so lebendigen und vielfältigen Alltags in Neukölln spielen sie alle eine wichtige Rolle.

Team der Neuköllner Oper

Neuköllner Oper

Die Theaterstücke „Die Fleisch“ und „Lost (1,5m)“, die im Spätsommer und Herbst 2020 in der Neu­köllner Oper, Karl-Marx-Strasse 131/133, uraufgeführt wurden, beschäftigen sich mit Isolation und sozialer Distanzierung. So, wie sie mancher während der Corona-Pandemie – viel­leicht aber auch schon zuvor – erlebt haben mag.

Vieles von jenem, was Theater in der Neuköll­ner Oper zu einem besonderen Erlebnis macht, ist unter den aktuellen Umständen nicht möglich: der enge Körperkontakt der Darstellenden, die geringe Distanz zwischen Bühne, Publikum und lauten Blasinstrumenten. All dies verkörpert das star­ke Bedürfnis nach emotionaler Nähe in einer zunehmend anonymisierten Gesellschaft. Den neuen Hygieneregelungen entsprechend mussten also Stücke umgeschrieben werden, um die Botschaft durch eine andere Art der Inszenierung zu vermitteln.

Andreas Altenhof, Mitglied im Direktorium, erklärt, dass das neue Hygienekonzept, das zusam­men mit dem Heimathafen entwickelt wurde, mit den kleineren Thea­tern der Stadt geteilt wird. Für diese sind die Umstellungen besonders kräftezeh­rend, weil oftmals die Ressourcen dafür fehlen. An Kreativität für neue Konzepte mangelt es in der Neuköllner Oper dank enger Teamarbeit nicht. So kamen Clara Fendel und Änne Marthe-Kühn zusammen auf die Idee für das Projekt „Save the last Kiez”: Ausschnitte aus kommenden Stücken werden in Restau­rants, Kneipen und Läden im Zentrum Karl-Marx-Straße aufgeführt und online gestellt. So gibt die Neuköllner Oper denjenigen eine Bühne, die einen großen Einfluss auf das bunte Leben hier haben.

Änderungsschneiderei Bildik

Änderungsschneiderei Bildik

Frau Bildik war trotz der pandemiebedingten Schließung häufig in ihrem Schneiderladen in der Neckarstraße 3. Hier fand sie Ablenkung durch die tägliche Routine ihrer Arbeit. Die Zeit war von viel Unsicherheit geprägt, weil die Auflagen der Behörden für die Geschäfte häufig geändert wurden und nicht immer eindeutig waren. Frau Bildik bemühte sich, über das Radio und im Austausch mit den Geschäftsnachbarn stets auf dem neuesten Stand zu sein.

Die Arbeit mit Stoffen lässt sie ihre Sorgen zumin­dest zeitweise vergessen. Ihr Laden ist wie ein zweites Zuhause. Seitdem Frau Bildik vor mehr als 20 Jahren nach Berlin gezogen ist, kommt sie werktags ins Geschäft, um Hosen, Röcke und Klei­der den Körpern junger und alter Menschen anzu­passen. Hier im Laden trifft sie zu „normalen“ Zei­ten Bekannte, neue Gesichter und Familie bei einem Tee am kleinen Tisch auf dem Gehweg. Das Geschäft ist für sie Lebensunterhalt und soziales Leben zugleich.

Mit großer Sorge beobachtet sie, dass der menschli­che Kontakt unter den Coro­na-Auflagen leidet. Vielleicht helfe es den Menschen aber auch, zu den wesentlichen Dingen des Lebens zurückzu­finden und Familie und Freunde mehr wertzuschätzen. Zum Schluss zeigt Frau Bildik stolz ihre neuesten Masken­modelle aus ausgefallenen Stoffen, wie zum Beispiel aus Spitze oder hübschen Gar­dinen. Auch für das Fitness-Zentrum gegenüber hat sie für alle Mitarbeitenden Mas­ken genäht – diese allerdings ganz schlicht in schwarz.

Das KAPiTAL

Das KAPiTAL

Durch das schmale Fenster sieht man vom Karl-Marx-Platz 18 in einen abge­dunkelten Raum. Was von außen wie eine gemütliche Kiezkneipe aussieht, ist im Inneren noch viel mehr. Hier steht nicht der Genuss alkoholischer Feier­abenddrinks im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Kunst. Genauer gesagt geht es Ismael Duá, Betreiber des KAPiTAL, und seiner Kollegin Lisan Lantin um den Austausch über Kunst zwischen Kunstschaffenden und Gästen mit den unterschiedlichsten Hintergründen.

Die Kneipe soll ein Ort sein, in dem Kunst nicht unnahbar scheint, son­dern in dem vielmehr soziale Brücken geschlagen werden. Abendlich wer­den Künstlerinnen und Künstler einge­laden, um mit anderen über ihre Arbeit zu sprechen. Ziel sei es dabei, aus der künstlerisch akademischen Blase auszutreten und andere Pers­pektiven bewusst wahrzunehmen.

Die coronabedingte „Dürrephase“, wie sie Ismael Duá beschreibt, ist für die Kultur- und Kunstsze­ne eigentlich keine Besonderheit. Die Branche lebe immer von der Hand in den Mund. Dass Kunst in Krisen nicht als system-relevant anerkannt wird, bedauert er zutiefst. Denn Kunst hilft uns, Kri­sen besser zu verarbeiten oder uns in andere Welten zu flüchten. Das KAPiTAL hat die erzwungene Ruhephase auch zur Renovierung seiner Räume genutzt. Das Fenster soll bald zur Straße hin geöffnet werden und die Kunst durch ein To-Go Angebot „nahbarer machen“, sie „näher an die Öffentlichkeit rücken“. So ist das offene Fenster neues Format und Metapher zugleich – und eine Aufforderung, Kunst system-relevanter einzubringen.

Blumen Jette

Blumen Jette

Der Blumenladen „Blumen Jette“ liegt in der Karl-Marx-Straße 178. Dieses Jahr feiert Frau Horn, Geschäftsinhaberin, ihr 25. Jubiläum. Sie betreibt eines der wenigen übrig gebliebenen, langjährig inhabergeführten Geschäfte in der Karl-Marx-Straße. Ihr Jubiläums-Jahr hatte sich Frau Horn allerdings ein wenig anders vorgestellt. Durch die Covid19-Pandemie musste auch Frau Horn ihr Geschäft während des Lockdowns schließen.

Mit der Wiedereröffnung Ende April erlebte sie dann, was Zusammenhalt für ihre Kundschaft bedeutet. Insbesondere ihre Stammkunden besuchten sie in dieser Zeit viel und kurbelten mit den Käufen von Blumensträußen ihr Geschäft wieder an. „Aber natürlich ist das Geld auch in vielen Haushalten knapp…“, erzählt Frau Horn, „…nicht jeder hat in diesen Zeiten Geld übrig für ein paar schöne Blumen“. Vor allem die fehlenden Einnahmen durch Veranstaltungen wie Hochzeiten, Jubiläen oder runde Geburtstage, hinterlassen Sorgen bei Frau Horn.

Aber sie will nicht aufgeben und ist sehr dankbar für die lieben Botschaften und den Zusammenhalt ihrer Kundinnen und Kunden: „Das so viele Stammkunden zu mir kamen und mich bestärkt haben, hat mich wirklich sehr gerührt!“.

Neuköllner_innen

Neuköllner_innen

Zur Zeit noch ein wenig verdeckt von Lagerflächen der Baustelle der Karl-Marx-Straße, befindet sich in der Weichselstraße 66 das kleine Café NEUKÖLLNER_INNEN. Das Café betreiben Mutter und Sohn in familiärer Zusammenarbeit. Der Ausbruch der Covid19-Pandemie hat die beiden hart getroffen und das zu einer Zeit, in der sie gerade ein neues Konzept für ihr kleines Geschäft erprobten. Nicht nur Kaffeespezialitäten, Sandwiches oder belgische Waffeln werden hier geboten, viel mehr liegt der Fokus auf amerikanischen Cornflakes, Chips und Softdrinks. „Viele Gäste trauten sich nicht mehr ins Geschäft, da sie Angst hatten, den Abstand nicht einhalten zu können oder die Kaffeebecher anzufassen“. Mit der springenden Idee des Sohnes kam die Wende: er legte ein Instagram-Profil für das Geschäft an und stellte Bilder der verschiedensten, sonst hauptsächlich in Amerika erhältlichen Cornflakes und Softdrinks ein. Mittlerweile hat der Instagram-Account mehr als 4.500 Abonnenten und die Jugendlichen kommen täglich ins Geschäft, um sich eine Schüssel Cornflakes zu sichern. Beide bestätigen: „Der Online-Auftritt hat uns am meisten durch die Zeit geholfen und es tat gut, sich mit den Nachbargeschäften auszutauschen. Aber viele hier schaffen es auch nicht.“ Sie sind zuversichtlich: „Uns werden die Cornflakes nicht ausgehen und wir bleiben hier!“.

Job Point

Job Point Berlin

Im JOB POINT Berlin in der Neuköllner „Passage“ können sich Arbeitssuchende vor Ort über aktuelle Stellenausschreibungen informieren, Bewerbungen schreiben, ausdrucken sowie kostenlose Beratungen nutzen. „Viele unserer Kundinnen und Kunden sind auf unsere Technik und andere Hilfestellungen angewiesen“, erklärt Projektleiterin Denise Wegner. Die Schließung des JOB POINT Berlin hat es deshalb vielen Jobsuchenden schwer gemacht. Doch das Team, zu dem auch Kundenberater Serkan Aran gehört, hat schnell reagiert und viele Leistungen nicht nur digital, sondern auch einen kontaktlosen „Notdienst“ angeboten. Seit Ende Mai ist der Betrieb wieder angelaufen. Etwas hat sich seitdem geändert: Es gibt nun mehr und vor allem jüngere Arbeitssuchende. „Vor allem Schülerinnen und Schüler erkundigen sich verstärkt nach kurzfristigen Ausbildungsangeboten.“ Denise Wegner und Ihr Team versuchen, ihr Angebot stets auszubauen und anzupassen. Auch im Kiez engagieren sie sich. So war dieses Jahr wieder ein „Passagenfest“ geplant – ein Straßenfest der hier ansässigen Gewerbetreibenden und Kulturschaffenden. Die Pandemie machte einen Strich durch die Rechnung. Doch Denise Wegner bleibt dran, denn sie schätzt hier in Neukölln die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure sowie die lebendige Nachbarschaft sehr.

Daria Grodecki

Neukölln Arcaden

Das „neue Normal“ beinhaltet Abstand und Mund-Nasen-Schutz. Es ist längst Alltag auch in den Neukölln Arcaden. Alles davor fühlt sich sehr weit weg an. Geschlossen waren die Neukölln Arcaden dabei nie, da auch zu Beginn der Pandemie die Angebote der Grundversorgung unverändert geöffnet waren. Im weiteren Verlauf gab es neue Verordnungen, die restlichen Shops öffneten wieder, das Schutz- und Hygienekonzept wurde immer weiter optimiert und der Austausch mit den Gästen, Miet- und Geschäftspartnern sowie den Behörden intensiviert. Diese enge Zusammenarbeit geht weiter. Denn so ein Shoppingcenter ist eine eigene kleine Welt. Hunderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind Tag für Tag im Haus, damit alle Abläufe reibungslos funktionieren.

In Krisenzeiten, heißt es, trennt sich die Spreu vom Weizen. Der Kiez rund um die Neukölln Arcaden wäre nach diesem Sprichwort reiner Weizen! Selbst als die Sorgen besonders groß waren, war man für all jene da, denen es noch schlechter geht. Gemeinsam mit anderen Berliner Shoppingcentern des Betreiberunternehmens der Neukölln Arcaden wurde eine Lebensmittelspenden-Aktion für die Berliner Tafel e. V. ins Leben gerufen, deren Ausgabestellen wegen Corona geschlossen bleiben mussten. Der Inhalt dieser Tüten kam unter anderem von den Kundinnen und Kunden der Neukölln Arcaden. Auch Geldspenden wurden gesammelt. Es wurden Masken mit der Bitte um eine Spende für alle ausgegeben, die ihre eigene vergessen hatten. So kamen rund 5.000 Euro allein in den Neukölln Arcaden zusammen. Das macht stolz und gibt ein klein wenig Sicherheit: Was auch kommen mag, Neukölln hält zusammen und bleibt hilfsbereit!