Die 15. Ausgabe des BROADWAY erzählt unter dem Titel „Blicke“ die Geschichten und Perspektiven einiger Menschen und Einrichtungen auf das Zentrum Karl-Marx-Straße. Sie zeigt, wie jene, die hier leben, wirken und arbeiten, die Straße tagtäglich mitgestalten und sie so zu einem lebendigen und einzigartigen Ort machen. Wir sprechen mit unterschiedlichen Akteur*innen, fangen die Sichtweisen von Kindern, Jugendlichen und Senior*innen ein und gewähren spannende Einblicke in die vielfältigen Lebensrealitäten entlang der Karl-Marx-Straße und in den angrenzenden Kiezen.

Stand Oktober 2024

Junge Blicke

Es ist Samstag, der letzte Schultag vor der Sommerpause. Kinder und Jugendliche strömen stolz mit ihren Zeugnissen aus der Deutsch-Arabischen Schule Ibn Khaldun im Gebäude des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks (EJF) in der Uthmannstraße. Einige werden von ihren Eltern begleitet. Wir sind mit acht Jugendlichen verabredet, um mit ihnen über die Karl-Marx-Straße zu sprechen. Die Sicht von Jugendlichen auf die Orte dieser Stadt wird in der Regel selten erfragt. Umso gespannter sind wir, mehr über ihre Sichtweisen und Wahrnehmungen zu erfahren.

Jugendliche

Im ersten Stock des Hauses erwarten uns Mohammad, Mohammed, Abdel, Fajr, Obada, Abdulkader, Mariam und Inana. Sie sind zwischen 13 und 17 Jahre alt und lernen hier regelmäßig am Wochenende drei Stunden pro Woche Arabisch. Sie kommen aus verschiedenen arabischen Ländern, einige sind nach Berlin gekommen, andere in Berlin geboren. Nur wenige wohnen direkt in Neukölln. Dennoch ist der Bezirk – neben der Sprachschule – ein wichtiger Bezugspunkt für sie und ihre Familien.

Im gemeinsamen Gespräch erfahren wir sehr eindrücklich, wie eng die Themen Einkaufen und Aufenthaltsqualität mit den Aspekten Wohlfühlen und Zugehörigkeit verbunden sind. Diese Faktoren beeinflussen unsere Erwartungen, was ein Zentrum für uns bieten soll – und entscheiden vielleicht sogar darüber, ob wir lieber diese oder eine andere Straße besuchen. In unserem Austausch klingt an: Die Karl-Marx-Straße wird von den Jugendlichen eher punktuell erlebt und besucht. Bezugspunkte sind insbesondere die Neukölln Arcaden und auch einzelne Geschäfte. In ihrer Gesamtheit bietet die Straße unseren Gesprächspartner*innen aber derzeit wenig an. Ein besonderes Gefühl von Heimat dagegen scheint ihnen die Sonnenallee zu vermitteln.

Wir gehen gemeinsam zum Alfred-Scholz-Platz und schauen uns um. Was gefällt den Jugendlichen, was nicht? Einige wünschen sich noch mehr Leben auf dem Platz und auf den Gehwegen – je voller, desto besser. Dies gilt jedoch nicht für den Müll, den die Jugendlichen erspähen. Auch mehr Plätze zum Sitzen und Schauen wären schön – nur nicht unbedingt zur Straße hin. Schattenplätze sind ebenfalls wichtig. Klar wird: Auch in puncto Aufenthaltsqualität liegt die Sonnenallee, zwischen Anzengruberstraße und Hermannplatz, in der Wahrnehmung der Jugendlichen deutlich vor der Karl-Marx-Straße.
Wenn Geld keine Rolle spielen würde, stünden vor allem bei den Jungen Dinge wie Parfüm, Schmuck, Schuhe und Smartphones ganz oben auf der Einkaufsliste. Die Mädchen interessieren sich zwar auch für Kleidung, für sie sind es aber insbesondere Restaurants, die sie gerne gemeinsam aufsuchen möchten. Shoppen im Allgemeinen scheint bei den befragten Jugendlichen keine besonders beliebte Freizeitbeschäftigung zu sein. So wird es als zu nervenaufreibend und anstrengend empfunden. Hier punktet eindeutig der Online-Handel.

Neukölln Arcaden

Wir kommen ins Nachdenken. Welche Bedürfnisse sollte ein Zentrum erfüllen? Können Infrastruktur und Angebote allen Bevölkerungsgruppen gerecht werden? Ist es nicht gar ein Glücksfall für den Bezirk, dass es mit der Sonnenallee und der Karl-Marx-Straße innerhalb weniger hundert Meter zwei so vielfältige Straßen gibt, die zusammen ein breites Spektrum an Angeboten bieten und damit viele unterschiedliche Menschen ansprechen können? Klar ist: Jugendliche brauchen Orte und Angebote, die sie nutzen und erreichen können. Gleichzeitig benötigen sie Orte der Identifikation, an die sie sich mit positiven Gefühlen ein Leben lang erinnern und mit denen sie sich verbunden fühlen können. Es sind weniger die kurzfristig befriedigenden Einkaufserlebnisse, die dieses Gefühl prägen, sondern das Zusammenspiel verschiedenster atmosphärischer Faktoren, die anziehend wirken. Mit einem herzlichen Dankeschön für die persönlichen Einblicke verabschieden wir uns von den acht Jugendlichen auf dem Alfred-Scholz-Platz.

Stephanie Otto und Christoph Lentwojt, raumscript