Der Broadway Nº 10 – 2018/2019 widmet sich dem Thema „Wandel“. Kaum ein Begriff beschreibt die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre treffender – solange existiert die [Aktion! Karl-Marx-Straße] im Zentrum Karl-Marx-Straße nun schon.

Das Magazin beleuchtet den Wandel aus vielen unterschiedlichen Perspektiven – von den Menschen, die hier leben und arbeiten, über den öffentlichen Raum, die Entwicklung des Handels und der Gastronomie bis zur neuen Begeisterung für die Stadtnatur. Diese vielen unterschiedlichen Facetten zeigen das bunte Bild des Neuköllner Zentrums, seiner Chancen und Herausforderungen.

Leben an der Karl-Marx-Straße

Wessen Zuhause ist die Karl-Marx-Straße? Wer lässt sich hier gerne nieder und warum? Was wünschen sich die Menschen für ihre Zukunft hier? Mit diesen Fragen begaben sich die Autor*innen des BROADWAY–Redaktionsteams Mitte September 2018 in die Straßen des Zen-trums und trafen auf interessante Menschen mit Antworten, die auch für die Vielfalt und das Potenzial des Bezirks stehen.

„Ich bin hier nicht die Fremde“ Ali, 34 Jahre

Ali gefällt die Multikulturalität in Neukölln und fühlt sich hier zuhause. „Ich bin hier nicht die einzige schwarze Frau und dadurch auch nicht ‚die Fremde’ im Kiez“, beschreibt sie ihr alltägliches Empfinden. Viele Freund*innen wohnen hier in der Nähe, die sie zum großen Teil über ihre Kinder kennen gelernt hat. Seit zehn Jahren wohnt Ali in Neukölln. Wir treffen sie auf dem Kindl-Gelände. Die Karl-Marx-Straße nutzt sie weniger als Aufenthaltsort, sondern eher als Verbindung, über die sie verschiedene Lieblingsorte erreicht. Im Sommer zieht es sie vor allem aufs Tempelhofer Feld oder zum Klunkerkranich. „Da hat man einen schönen Blick auf die Stadt, aber er ist zu teuer geworden.“ Im Winter geht sie gern in das Stadtbad mit Sauna, auch die Helene-Nathan-Bibliothek besucht sie öfter. Für Fahrradfahrer*innen ist die Situation ihrer Meinung nach immer noch schwierig. Es braucht weitere Verbesserungen. Nicht nachvollziehen kann sie manche Unfreundlichkeit der Leute und das Desinteresse einiger Bevölkerungsgruppen am politischen Engagement. Um aus Neukölln ein noch besseres Zuhause zu machen, sollte die Politik stärker gegen Spekulant*innen vorgehen, die nur eine Gewinnvermehrung im Sinn haben und den Stadtteil gar nicht kennen.

„Man fühlt sich zuhause, weil man alles kennt.“                                                                                 Caroline, Ende 50

„Gewachsene Geschichte“ nennt Caroline die 18 Jahre, in denen sie bereits in der Richardstraße wohnt. Die Neuköllner Hinterhöfe, ihre Hausgemeinschaft, den Comenius-Garten oder den Richardplatz schätzt sie sehr. Durch das Miterleben des Aufwachsens ihrer Kinder, die Nähe zu ihren Freund*innen und die Kiezverbundenheit fühlt sich Caroline hier zuhause. „Weil man alles kennt“, sagt sie in Bezug auf die Nachbar*innen und naheliegenden Geschäfte. Das internationale Angebot lobt Caroline genauso wie das gute Verständnis und die Vernetzung zwischen den Ladenbesitzer*innen. Sie selbst führt seit sechs Jahren in ihrem Wohnhaus einen Second-Hand-Laden für Kinderkleidung. Der Kiez ist „lebbarer“ geworden, es entwickelt sich viel, wie zum Beispiel auf dem Alfred-Scholz-Platz. Allerdings bringt die Aufwertung auch Probleme mit sich. Die stark gestiegenen Mieten führen zu Kommunikationsproblemen zwischen alten und neuen Nachbar*innen: „Neue Mieter zahlen hier doppelt so viel“, sagt Caroline. Auch in ihrem Laden bekommt sie den Immobilienboom zu spüren. Demnächst muss sie schließen, weil sie die Miete nicht mehr zahlen kann. Dabei gestaltet vor allem das Kleingewerbe die Atmosphäre im Kiez mit. Ihrer Meinung nach wäre ein Milieuschutz auch für das Kleingewerbe nötig.

„Multikulti halt, mehr Heimat geht eigentlich nicht.“                                                                       Claudia, 28 Jahre

Claudia ist in der Gegend um das Rathaus Neukölln aufgewachsen, jetzt wohnt sie in Buckow. Trotzdem ist die Karl-Marx- Straße ihre Heimat. Sie ist vor allem wegen ihrer Arbeit im Zeitschriften- & Tabakladen in der Passage häufig hier. „Man kennt die Leute vom Sehen und die Mitarbeiter der Geschäfte, wo man einkaufen geht. Es ist das Vertraute, was man täglich sieht, was die Heimat ausmacht. Multikulti halt, mehr Heimat geht eigentlich nicht“, sagt Claudia über die Karl-Marx-Straße. In ihrer Freizeit hält sie sich am liebsten in der Hasenheide, im Körnerpark, auf dem Karl-Marx-Platz und auf dem KINDL-Gelände auf. Allerdings sollten die Spielplätze in der nahen Umgebung verbessert und vor allem sauberer gehalten werden, auch breitere Bürgersteige in der Karl-Marx-Straße fände Claudia gut.

„Die Karl-Marx-Straße ist ja eine Berühmtheit.“                                                                                             Ebenezer, 69 Jahre

Ebenezer ist vor sechs Jahren nach Berlin gezogen und wohnt in der Roseggerstraße. Anfangs lebte er in der Boddinstraße und führte dort auch ein Bekleidungsgeschäft. Seine Großeltern wohnten ursprünglich in den USA bis sie sich dazu entschieden, nach Freetown (Sierra Leone) zu ziehen. Die meiste Zeit verbrachte er jedoch in Heidelberg, wohin es ihn mit 19 Jahren zum Studium verschlug. Dort ist er quasi aufgewachsen und empfindet die soziale Kompaktheit als Zuhause: man kennt sich und alles ist etwas kleiner als in Berlin. In Neukölln erlebt Ebenezer das Alltagsleben anonymer, manchmal vermisst er auch die Zuverlässigkeit bei den Leuten. Trotzdem betont er, wie gut die multikulturelle Begegnung in Neukölln funktioniert. Vor allem auf dem Rathausvorplatz, wo er sich fast täglich aufhält, „sind alle möglichen Leute“. Auch während wir das kurze Interview führen, grüßt Ebenezer einige Passant*innen, die er zu kennen scheint.

„Ich fühl‘ mich hier wohl, weil es mir gefällt.“                                                                                             Kevin, 27 Jahre

Kevin ist erst vor vier Wochen nach Berlin gezogen. Der gebürtige Marburger befindet sich als Lehrer momentan auf Jobsuche und hatte Lust auf eine Großstadt – so zog es ihn nach Neukölln. Als wir ihn treffen, will er sich gerade den Wochenmarkt auf dem Karl-Marx-Platz anschauen, in dessen Nähe er wohnt. Um sich wirklich zuhause oder heimatlich zu fühlen, muss man sich laut Kevin vor allem in der Wohnung und Umgebung wohlfühlen, man muss sich in der Gegend auskennen und nicht lange suchen müssen. Viele Freund*innen von Kevin wohnen hier in der Nähe, was auch ein sehr wichtiger Faktor für ihn ist. Er hat hier noch keine spezifischen Lieblingsorte gefunden, jedoch gefällt ihm besonders das bunte Treiben an der Karl-Marx-Straße. Er schätzt die vielen verschiedenen Läden vor Ort, außerdem ist alles nah beieinander.

Interviews: Claas Fritzsche und Tania Salas, raumscript