Im  Broadway Nº 11 – 2019/2020  nehmen wir das Thema „Vielfalt“ beim Wort: Von den ganz unterschiedlichen Voraussetzungen für ein gelingendes Zusammenleben in Vielfalt, über die Vielfalt der Flächennutzung im Handel, tierische Artenvielfalt, queeres Leben, Vielfalt der Kulturen und Religionen und weitere vielfältige Aspekte des Lebens und Arbeitens im Bezirkszentrum Karl-Marx-Straße.

Der öffentliche Raum braucht Regeln und Verantwortung

Die Karl-Marx-Straße bietet den verschiedenen Ansprüchen der vielen Anwohner*innen und Besucher*innen nur wenig Platz. Das Zusammenleben im öffent­lichen Raum erfordert vor allem gegenseitige Rücksichtnahme, um Vielfalt und eine hohe Aufenthaltsqualität gewährleisten zu können. Über die Ordnung in der Vielfalt sprachen wir mit Herrn Korbjuhn, kommissarischer Leiter, und Herrn Dacosta, Leiter des Außendienstes des Ordnungsamtes Neukölln. 

Welche Aufgaben hat das Ordnungsamt?

Der Auftrag an das Ordnungsamt ist, die Ordnung im öffentlichen Raum zu regeln. Dazu gibt es Rechtsvorschriften, die das Zusammenleben der Menschen betreffen und die einzuhalten sind, z. B. die Verkehrsüberwachung des ruhenden Verkehrs, die Nutzung des öffentlichen Raums wie die Sondernutzung für die Präsentation von Waren oder das Aufstellen von Tischen. Auch der Amtstierarzt gehört zum Ordnungsamt. Ansässig ist hier auch die Anlauf- und Beratungsstelle für Fragen, Mitteilungen bzw. Beschwerden über Missstände im öffentlichen Raum. Das Ordnungsamt ist auch eine Servicebehörde, einerseits berät sie zu den genannten Aspekten, anderseits greift sie bei Fehlverhalten sanktionierend ein. Ziel ist es immer, Verhaltensänderungen bei den Menschen herbeizuführen. 

Auf welche Konflikte treffen Sie im öffent­lichen Raum im Zentrum Karl-Marx-Straße?

Die Enge der Karl-Marx-Straße ist eine Herausforderung für die Nutzung des öffentlichen Raums. Das „Flanieren“, die „Lust am Draußen“ benötigt Flächen. Hier wird eingekauft, gegessen, werden Waren ausgestellt, die Straße ist Transitraum für unterschiedlichste Formen der Mobilität. Dafür ist die Karl-Marx-Straße aber überwiegend viel zu schmal – auch noch nach dem Umbau. Eigentlich gibt es im öffentlichen Raum des Zentrums nicht ausreichend Platz, die wachsende Zahl der Menschen überhaupt noch aufzunehmen. Zudem wird die Karl-Marx-Straße mit weiteren Problemen überlagert. So treffen wir häufig auf Obdachlosigkeit oder Angehörige problembelasteter Gruppen, wie z. B. aus dem Drogenmilieu. An der Straße sammeln sich menschliche Schicksale, gleichzeitig besteht der Wunsch der Öffentlichkeit, diese Phänomene zurückzudrängen. In dieser Beziehung ist die Arbeit des Ordnungsamtes sehr undankbar.

Meldungen

Anzahl und Art der Meldungen von Störungen an der Karl-Marx-Straße durch die Bevölkerung, Januar–September 2019

Wie schätzen Sie die verkehrliche Situation auf der Karl-Marx-Straße ein?

Für den Radverkehr hat man mit dem Umbau eine relativ gute Lösung gefunden. Das Ordnungsamt ist jeden Tag in der Karl-Marx-Straße unterwegs und räumt z. B. die Fahrradstreifen von falschparkenden Autos frei. Mittlerweile hat sich hier die Situation leicht verbessert. Die Lieferzonen werden leider häufig durch Unberechtigte zugeparkt. Da kann man noch so viel überwachen und abschleppen. Der Lieferverkehr, besonders der individuelle durch Amazon und Co, nimmt gleichzeitig stark zu und verursacht neue bzw. verstärkt die bestehenden Probleme. 

Allen Verkehrsteilnehmer*innen zu ihrem Recht verhelfen zu wollen, ist in der Karl-Marx-Straße leider der Versuch einer Quadratur des Kreises. Jeder wird zum Lobbyisten für seine bevorzugte Verkehrsart. In dieser Situation ist das Ordnungsamt permanent gefordert, das Funktionieren der Stadt zu gewährleisten. Und gleichzeitig wird dem Ordnungsamt oft die Schuld gegeben, wenn das nicht klappt. 

Würden Sie besondere Strategien empfehlen?

Die Mitarbeiter*innen des Ordnungsamtes sind bei allen Maßnahmen und Visionen Realisten, die sich allen entstehenden Situationen stellen müssen. In Bezug auf vorbeugende Maßnahmen bleibt leider wenig Gestaltungsspielraum. Leider scheint bei Fehlverhalten lediglich die Festsetzung von Verwarnungs- bzw. Bußgeldern eine Verhaltensänderung zu bewirken. Doch nicht selten werden diese von den Verursacher*innen „bereitwillig“ in Kauf genommen, ihre Höhe scheint nicht abzuschrecken. Manchmal kann es gelingen, jemanden im Gespräch zur Einsicht zu bringen. 

Karl-Marx-Straße

Zugeparkter Fahrradstreifen auf der Karl-Marx-Straße © Susanne Tessa Müller

Braucht es mehr Regeln?

Eigentlich sind wir in Deutschland gut durchgeregelt. Es hapert an der Durchsetzung. Hierfür müssten alle beteiligten Instanzen (von der Anzeigenaufnahme bis zu einer möglichen Gerichtsentscheidung) konsequenter zusammenwirken. Die Verfahren müssen stimmig sein, sonst stumpfen die vorhandenen Mittel ab.

Stichwort „Eigenverantwortung“: Was wünschen Sie sich von den Menschen in Neukölln?

Das Ordnungsamt Neukölln bearbeitet rund 25.000 Bürger*innenanfragen im Jahr. Circa die Hälfte betreffen illegale Müllablagerungen. Wir würden uns gerne um viele andere Dinge kümmern, werden aber regelrecht von Meldungen über Störungen im öffentlichen Raum überschwemmt, denen wir nachgehen müssen. Die Menschen nehmen den Raum für sich in Anspruch, für dessen Pflege fühlen sie sich dabei aber meist nicht zuständig. Die Frage ist, bis zu welchem Grad es zumutbar ist, im Sinne der Gemeinschaft selbst tätig zu werden. Unsere Erfahrung zeigt, je unpersönlicher die Nachbarschaft und je höher die Fluktuation bei Bewohner*innen und Gewerbetreibenden, desto weniger fühlen sie sich zuständig, selbst tätig zu werden.
Das Ordnungsamt unterstützt gerne bürgerschaftliches Engagement zur Pflege des öffentlichen Raums. Die Akquise, sich an Prozessen zu beteiligen, ist aber nicht unsere Aufgabe. Hier setzen wir auf die Partner*innen und Akteure z. B. in den Quartiersmanagements oder auf Initiativen wie „Schön wie wir“. Für alles Weitere ist das Ordnungsamt nicht auskömmlich ausgestattet.

Herr Korbjuhn, Herr Dacosta, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview: Stephanie Otto, raumscript