„Verborgen“ heißt das Thema des Broadway Nº 9 – 2017/2018. Die BROADWAY-Redaktion hat verborgene Orte und Menschen an der Karl-Marx-Straße ins Licht gerückt. Dazu gehören ein anderer Blick auf die Baustelle Karl-Marx-Straße, das unterirdische Kindl-Gelände, verborgene Höfe der Karl-Marx-Straße oder ein Blick hinter die Kulissen der Neuköllner Oper und der Neukölln Arcaden.
Zuhause an der Karl-Marx-Straße
Frau Käfert und Frau Rottmann leben bereits über 40 Jahre in der Karl-Marx-Straße und haben viele Veränderungen der Einkaufsstraße miterlebt. Im Interview erzählen sie von ihrem Leben in der Karl-Marx-Straße und davon, wie sie den Wandel der Karl-Marx-Straße mit ihrer Umgebung wahrnehmen.

Frau Käfert: „Die Karl-Marx-Straße ist meine Heimat!“
Frau Käfert ist gebürtige Kreuzbergerin und zog 1970 zusammen mit ihrem Mann in die Karl-Marx-Straße. Als gelernte Industrienäherin wechselte sie 1987 zur Post Ecke Anzengruberstraße und arbeitete dort bis zur Schließung des Standortes 2002. Die Karl-Marx-Straße ist ihr Zuhause. Im Interview erzählt Frau Käfert über ihr Leben an der Karl-Marx-Straße.
Zu welcher Tages- oder Nachtzeit mögen Sie die KMS am liebsten?
Ich gehe meistens morgens einkaufen, wenn noch nicht so viele Menschen unterwegs sind. Dann ist die Karl-Marx-Straße noch sehr ruhig und noch nicht vollständig erwacht. Meine Zeitung hole ich immer in der Passage. Die Betreiber des Kiosks kennen mich und nennen mich liebevoll „Mutti“. Mit Freunden aus der Nachbarschaft treffe ich mich regelmäßig im Café an der Ecke Alfred-Scholz-Platz zum Frühstücken oder einfach nur auf ein nettes Gespräch mit einer Tasse Kaffee.
Welche Geschäfte machen für Sie die Karl-Marx-Straße aus und gibt es ein Geschäft, das mittlerweile nicht mehr existiert und das Sie vermissen?
Heute sind es eher die vielen 1-Euro-Läden und die Handyläden, die die Karl-Marx-Straße dominieren. Das Angebot spricht eher die jüngeren Leute an. Den Charakter einer Flaniermeile hat die Straße nicht mehr. Früher bekam ich alles, was ich brauchte, auf der Karl-Marx-Straße. Mir fehlen Geschäfte wie z. B. Hertie, Wittstock, Koffer-Panneck oder Leiser.
An welches Fest auf der KMS erinnern Sie sich gerne zurück?
In den 1970-80ern gab es regelmäßig ein Straßenfest auf der Karl-Marx-Straße, eine Art Rummel mit Jahrmarktcharakter, lauter Musik, Losbuden und Fischbrötchen. Ich bin jedes Jahr mit meiner Familie und vielen Nachbarn dort gewesen.
Wie würden Sie das Verhältnis der Nachbarn zueinander beschreiben?
Während die Nachbarschaft auf der Straße sehr anonym ist, habe ich das Glück, in einem Haus mit einer sehr harmonischen Nachbarschaft zu wohnen. Ich kenne hier jeden und man hilft und unterstützt sich gegenseitig, wenn es erforderlich ist.
Was hat sich im Laufe der Zeit zum Guten und was zum Schlechten verändert?
Einerseits finde ich es richtig, dass die Karl-Marx-Straße so umfassend saniert wird. Seit Jahrzehnten ist nicht viel gemacht worden. Die Straßen wurden höchstens notdürftig geflickt. Das Ergebnis, der neue breite Bürgersteig, gefällt mir sehr gut. Andererseits ist die Karl-Marx-Straße voller, lauter und anonymer geworden. Trotzdem ist es meine Heimat. Ich liebe meine Karl-Marx-Straße und wohne gerne hier.

Frau Rottmann: „Der Saalbau gehört zu meinen Lieblingsorten“
Frau Rottmann lebt bereits ihr gesamtes Leben in der Karl-Marx-Straße im Drei-Löwen-Haus, das ihr Urgroßvater, ein Stadtrat von Neukölln und Baumeister, 1890 errichten ließ. Wenn sie nicht in ihrer Wohnung anzutreffen ist, dann ist sie vermutlich in ihrem liebevoll angelegten Garten, den sie und ihre Familie seit Jahrzehnten pflegen und bewirtschaften. Der Garten gleicht einer kleinen Oase mit Obstbäumen, einer uralten Eiche und lauschigen Plätzen zum Verweilen und Genießen. Auch Eichhörnchen und Fuchs haben dort ein Zuhause gefunden. Vor ihrer Haustür liegt die Einkaufsstraße, in der das Leben tobt. Über die Jahrzehnte hat sich aber in der Karl-Marx-Straße und auch in der Nachbarschaft viel verändert, erzählt uns Frau Rottmann im Interview.
Was sind neben Ihrem Garten Ihre Lieblingsorte in der Nachbarschaft?
Ich gehe sehr gerne gegenüber in die Passage ins Kino. Auch der Saalbau gehört zu meinen Lieblingsorten. Über dem Saalbau gab es in meiner Kindheit eine Tanzschule für Gesellschaftstanz, zu der mich meine Mutter geschickt hat. Heute gehe ich gerne in die Galerie am Saalbau.
Vermissen Sie ein Geschäft bzw. ein Café, das heute nicht mehr existiert?
In den 1980ern war die Karl-Marx-Straße die drittgrößte Einkaufsstraße in Berlin. Es gab ein vielfältiges Sortiment. Früher bin ich gerne die Karl-Marx-Straße entlang flaniert, bin zu Hertie einkaufen gegangen. Auf dem Rückweg habe ich mir dann ab und zu eine Köstlichkeit bei Butter Lindner mitgenommen. Nach der Wende haben leider viele Geschäfte geschlossen bzw. sind an andere Standorte gewechselt, so auch das Traditionsgeschäft Koffer-Panneck, das nach über 100 Jahren schließen musste. Die Vielfalt vermisse ich heute sehr. Es gibt eine Überzahl an Handy- und Imbissläden, die ich als Anwohnerin gar nicht brauche.

Das Kaufhaus in den 1960er Jahren © Museum Neukölln
An welches Event auf der KMS erinnern Sie sich gerne zurück?
Als das Festival „48 Stunden Neukölln“ vor ungefähr 20 Jahren neu initiiert wurde, war es noch „klein und fein“. Mittlerweile ist es mir zu groß geworden. Ähnlich sehe ich es mit dem Alt-Rixdorfer Weihnachtsmarkt. Ich habe das Gefühl, dass er jedes Jahr voller wird. Daher gehe ich eben schon am späten Nachmittag dorthin. Dann habe ich wenigstens die Möglichkeit, die schönen handwerklichen Arbeiten zu sehen. Diese werden leider auch zunehmend von Essensständen verdrängt, obwohl es die Handwerkskunst ist, die den Weihnachtsmarkt ausmacht.
Würden Sie von einem besonders positiven Erlebnis berichten, das Sie auf der KMS hatten?
Da würden mir spontan zwei Ereignisse einfallen. Ich hatte vor einigen Jahren mitten auf der Karl-Marx-Straße meine EC-Karte verloren und diese wurde mir umgehend von einem Passanten direkt nach Hause gebracht. Ein anderes positives Erlebnis hatte ich ebenfalls in meiner Nachbarschaft. Beim Abholen meiner Kleidung aus der Reinigung hatte ich mein Bargeld vergessen. Der Besitzer der Reinigung hatte ohne zu zögern gesagt, dass ich die Rechnung von ungefähr 20 Euro einfach beim nächsten Mal begleichen könne. Das macht für mich eine gute Nachbarschaft aus.
Wie würden Sie die Nachbarschaft in Ihrem Kiez bzw. in Ihrem Haus beschreiben und hat sie sich verändert?
Neukölln war schon immer ein Arbeiterbezirk. Auch in unserem Haus lebten Arbeiter und Angestellte mit ihren Familien. Es gab ein gemeinschaftliches und freundschaftliches Miteinander, das sich über die Jahre aufgebaut hatte. Leider ist es heute nicht mehr so einfach, eine solche Nachbarschaft aufzubauen. Es braucht dazu Zeit, die sich heutzutage nur noch wenige Vermieter nehmen bzw. haben. Das finde ich sehr schade.
In der Nachbarschaft habe ich noch alte Freundschaften. Wir treffen uns zum Kaffeetrinken im Garten oder in einem Café. Das Café neben der Bethlehemskirche in Rixdorf hat sehr guten Kuchen. Ein Besuch lohnt sich.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich für die Entwicklung der KMS wünschen?
Ich habe mir immer gewünscht, dass die Alte Post nach so vielen Jahren Leerstand endlich wieder belebt wird. Das Bauwerk gehört zu den historisch bedeutendsten und schönsten im Zentrum der Karl-Marx-Straße. Eine neue Nutzung bedeutet eine enorme Aufwertung für die Straße.
Interview: Martina Zielke